Wir sind mitten in der gruseligen Jahreszeit, und bei den Games haben die Horror-Spiele jetzt Hochkonjunktur. Seit Mitte Oktober ist "Scorn" auf dem Markt, "TheQuarry" kam schon im Sommer, hat aber passend zu Halloween einen DLC geliefert (allerdings nur Klamotten), im November kommt noch das vierte Spiel und erste Staffelfinale von "The Dark Pictures Anthology", und im Dezember naht das AAA-Horrorspiel "Callisto Protocol". Wie schwer hat es unter diesen Bedingungen ein psychedelisches Horrorspiel einer relativ unbekannten Indie-Spielebude?
Unsere Antwort nach rund 30 Stunden Spielzeit in "The Chant": Sehr schwer, wenn man es so fabriziert wie hier. Das eigentlich faszinierende Spiel mit Geheimtipp-Chancen hat uns am Ende einfach zu viele Nerven gekostet.
Worum geht's?
Beginnen wir mit einem einfachen Ommmmm. Das Einzelspieler-Horror-Action-Adventure "The Chant" spielt auf der fiktiven, abgelegenen Insel "Glory Island", wo ein Guru namens Tyler ein Selbstfindungszentrum gebaut hat, um gestressten Großstädtern den rechten Pfad zu sich selbst zu zeigen. Wir spielen die schwer traumatisierte Jess, die nicht so recht an den Erfolg des "Retreat", wie man so was wohl auch neudeutsch nennt, glauben will, sich aber trotzdem von einer alten Freundin überreden lässt, es mal auszuprobieren. Was Jess genau widerfahren ist, erzählen wir nicht, damit wir nicht spoilern.
Nachdem Jess Alltagskleidung und Schuhe abgelegt und gegen blütenweiße Ritual-Klamotten eingetauscht hat ("Findest du nicht, dass das was Sektenmäßiges hat?" - "So ein Quatsch, das ist gut für uns!"), nimmt sie an einem kultischen Ritual teil, das gehörig schiefgeht. Guru Tyler, optisch eine Mixtur aus Jesus und Charles Manson, öffnet aus Versehen das Tor zu einer parasitären Dimension, die die Insel verschlingt und die Kontrolle über alle und alles darauf übernimmt. Während Jess versucht, das Unheil aufzuhalten, gerät sie immer tiefer in die dunkle Geschichte von "Glory Island". Glory, glory, halleluja!
Diese Parallelwelt bringt natürlich auch fiese Kreaturen mit sich, die sich von den negativen Gefühlen der Menschen ernähren. Und in diesem Retreat-Center gibt's davon natürlich so einige. Die Folge ist das absolute Chaos. Mit Jess sind wir auf der ganzen Insel unterwegs und betreten verschiedenfarbige Nebelfelder (alles hat eine Bedeutung!), hauen den Monstern einen vor den Latz und versuchen, den Wahnsinn mit sehr eng bemessenen Ressourcen zu überleben.
Was uns gefallen hat
Die Inszenierung und das Konzept des Spiels sind gelungen. Sobald wir mit Jess die Insel betreten haben, gehen wir in unserer Rolle auf. Wir sind anfangs euphorisch, ein wenig eingelullt in einer Art "Life is strange"-Gefühl, haben bald die ersten Zweifel und wollen dann wirklich jede Ecke der Insel erkunden. Wir zucken vor Schmerz zusammen, wenn Jess gegen eine magische Wand rennt, die sie am Fortkommen hindert, und wir fluchen, weil wir nicht genügend Materialien finden. Der Soundteppich passt, wir hören die Monster, sehen sie aber oft noch nicht, und der kurze Atem, wenn Jess eine Panikattacke hat, geht uns durch Mark und Bein. Und sie hat viele Panikattacken. Fieserweise sind wir in solchen Momenten fast handlungsunfähig. Deshalb müssen wir immer auf unser Dreieck aus Körper, Geist und Seele achten, weil es die Entwicklung der Geschichte beeinflusst. Ommmmm. Wer jetzt sagt: Das ist Kokolores, das brauche ich nicht, dem entgeht mit "The Chant" auf jeden Fall eine ungewöhnliche Horrorfahrt.
Während die Entwickler Liebe in die Details der Spielwelt gesteckt haben, haben sie die Tiefe der anderen Figuren leider weitgehend vergessen. Da wäre in der Figurenzeichnung mehr drin gewesen. Jess ist gut gelungen, vor allem ihre psychische Vorbelastung und ihr Wille, das Drama durchzustehen, tragen gut durch das ganze Spiel. Nicht ganz dazu passt, dass sie manchmal etwas naiv dargestellt wird. So fragt sie an einer Stelle das in ein klebriges Netz eingewickelte Opfer: "Oh, was ist dir passiert?" Dabei hat sie noch vor wenigen Sekunden eine neue Seite aus dem Bestiarium gelesen und sollte eigentlich wissen, dass sie gerade im gottverdammten Nest einer furchterregenden Kreatur steht und keine Zeit für rührende Fragen hat. Ein Teil unserer Entscheidungen soll später zu unterschiedlichen Enden führen können. Wollen wir eine taffe Jess, muss uns das Spiel die Gelegenheit dazu bieten, sonst steuern wir hier eine multiple Persönlichkeit. Das machen andere Spiele besser.
Die anderen Retreat-Teilnehmer und auch der Guru wachsen uns weder ans Herz, noch verbinden wir mit ihnen irgendwelche positiven oder negativen Leidenschaften. Im Gegenteil: Eigentlich sind sie uns ziemlich egal.
Anders dagegen die üblen Kreaturen, die uns ans Leder wollen. Die sind uns nicht nur nicht egal, sondern die Entwickler haben hier ein umfangreiches Bestiarium erstellt, das Viecher wie den Manda-Egel (sehen ganz nett aus, sind aber ständig hungrig), die Mimikriecher, die Wabenkröte, den Würger und andere feine Gesellen aufführt.
Die im Grunde linearen Wege über die Insel sind mit oftmals gut geschriebenen Nebengeschichten gespickt. Auch hier spoilern wir nicht, um die Emotionalität mancher Storys nicht im Vorhinein zu zerstören. Hier und da finden wir Filmrollen, die mehr über die Vergangenheit der Insel zeigen. Es sind Rätsel zu lösen, Türschlüssel zusammenzufügen, um überhaupt die nächste Tür öffnen zu können und nicht wieder an den Monstern vorbei zu müssen - und haben wir schon erwähnt, dass man ständig nach Ressourcen sucht? Zum einen drängt uns also die Geschichte, das Mysterium nach vorn, zum anderen versuchen wir, nicht zu sehr hindurchzustürmen, um wirklich alles zu entdecken und keine Ressource auszulassen. Fluch und Segen aller guten Survival-Games, die auf Ressourcenknappheit setzen.
Was uns nicht gefallen hat
Das führt uns zu unseren Hauptkritikpunkten. Uns ist klar, dass wir in einem Survival-Horror-Adventure unterwegs sind, aber sogar im eigentlich leichten Story-Modus hatten wir nicht das Gefühl, dass die Balance mehr zu unseren Gunsten ausschlägt, sondern wir waren nach wie vor nur mit einem Hexenstab bewaffnet statt mit zwei oder gar drei. Nach ein paar wuchtigen Schlägen gegen Monster ist der Stab zerstört, und wir müssten mindestens einen neuen craften. Aber wie, wenn die Materialien dafür so rar gesät sind? In den ersten zwei oder drei Kapiteln ist das noch machbar, aber im fünften Kapitel sind wir an mehreren Oberbösewichten immer wieder gescheitert, weil wir zu wenig Material hatten.
Ok, jetzt sagen die Survival-Kenner: wenn du die direkte Konfrontation wahrscheinlich nicht überleben wirst, dann nimm die Beine in die Hand, bevor sie dir abgehackt werden. Auch "The Chant" wirbt damit: "Wenn die Vorräte knapp werden oder man in der Unterzahl ist, ist Flucht manchmal die bessere Entscheidung." Das hätten wir gerne öfter getan, aber die Gameplay-Möglichkeit, auszuweichen, ist meist zu langsam, zu ruckelig, zu hakelig, zu... ups, tot. Hier fehlt es einfach an Dynamik. Hinzu kommt, dass man rennen können muss in so einem Spiel. Uns wird die Möglichkeit geboten, ja. Wir können gehen, und schreiten dann sehr locker-flockig entspannt durch den Monsterwald. Und wir können rennen (oder das, was das Spiel als "rennen" bezeichnet) - dann ist es eher eine Variation von Rennen mit beidseitigem Hüftschaden. Soll heißen: In der Regel führt das auch eher zum Tod oder in die Konfrontation, aber nicht in die Flucht.
Und dann könnte man bei der Entwicklung noch über so etwas wie schleichen, anpirschen, verstecken nachdenken. Ist bei "The Chant" aber nicht vorgesehen. Es zwingt einen in die Falle. Das kann richtig an die Substanz gehen und einen heftigen Thrill entwickeln - aber auf Dauer hat es uns dann nur noch genervt. Schade für ein Spiel, das es uns ansonsten so angetan hat.
Über den (sehr eingeschränkten) Skilltree haben wir uns weitere Vorteile verschafft, die wir im Spielverlauf jedoch nicht als vorteilhaft gespürt haben. Noch einmal das Thema "Ressourcen": Wir können uns in die Lage versetzen, mehr Lavendel bei uns zu tragen, um bestimmte Verluste besser ausgleichen zu können. Dann haben wir also mehr Platz für immer noch das gleiche Problem: Am Wegesrand steht einfach viel zu selten Lavendel. Und "Glory Island" ist nun mal auch nicht die Provence.
Fazit
"The Chant" umfasst sechs Kapitel sowie einen kurzen Prolog. Wir haben rund 30 Stunden gespielt und am Ende des fünften Kapitels entnervt aufgegeben, weil wir, bewaffnet mit einem fast aufgebrauchten Hexenstab, ein bisschen Salz und der Chance, uns einen Feuerbüschel zu ergattern, nicht gegen den Boss und drei seiner wankenden Halbtoten ankamen. Wieder und wieder nicht. Auch im Story-Modus nicht, der den Spielerinnen und Spielern immerhin die größere Chance bieten sollte, den Kampf zu überstehen. Die Erfahrung haben wir nicht gemacht, und wird diese Balanceschwierigkeit nicht noch angeglichen, könnte "The Chant" bei den Gelegenheitsspielern verlieren. Wie gesagt: Das wäre schade für die ungewöhnliche Setting-Idee und die spannende Geschichte.
Trotz Motion-Capture und Entwicklung nur für die aktuellen Konsolen und den PC kann man in unserer Testversion nicht davon sprechen, dass die Präsentation des Spiels hohes Niveau erreicht. Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben. Technische Fehler dagegen haben wir kaum gesehen. Der auffälligste war an einer Stelle der fehlende Sprecherton, während die Figur schon die Lippen bewegte.
"The Chant" ist seit dem 3. November 2022 erhältlich für Xbox Series X/S, PS5 und PC und kostet rund 40 Euro.